Auswahl Logbuch Transhumance für Leaflet

Ich mache dieses Projekt für Monsieur Jean. Täglich spazierte er durch den Parc des Cropettes, hielt dort einen Moment an und trank dann je nach Tageszeit einen Morgenkaffee im Café Cheminots oder spät am Abend ein Bier bei den Burkinabes im Rue Montbrillant Nummer 24. Mit seinen 87 Jahren, seinen langen weissen Haaren und seiner roten Schärpe. Rüstig wie er war, lächelte er immer die Kinder an, und sagte oft: Ein Kinderlächeln und der Tag ist gerettet! Monsieur Jean war ein aussergewöhnlicher Mann. In jenem Monat Februar im Jahr 2002, auf der einzigen Sonnenbank im Parc des Cropettes, wo ich mit meiner betrübten Seele und meinem kleinen Kind herumhing, redeten wir über Trennungen. Er sagte zu mir: Das Schlimmste ist nicht zu sterben, sondern den anderen zuzusehen, wie sie früher gehen. Monsieur Jean sagte weiter: Ich habe keine Angst vor dem Sterben, ich bin im Einklang mit der Natur. Eines Tages trafen wir Monsieur Jean nicht mehr im Park und fragten nach seiner Gesundheit. Er war dahin gegangen, im Alter von 90 Jahren, wie seine Eltern, wie er es sich gewünscht hatte. Meine Nachbarin Florence ging an die Beerdigung. Dort erkannte sie jemanden: «Ihr Gesicht kommt mir bekannt vor… kennen wir uns?» Ich bin seine Nichte, ich heisse Ruth Dreyfuss.

AUF DER HUNDWILER HÖHE (Appenzell) 15. August 09, 15h, Duo mit Reto Suhner

Aufstehen um 6h morgens. Abfahrt ab Genf um 6h45 Richtung Appenzell Ausserrhoden: die Hundwiler Höhe. Ankunft am Fuss des Berges um 11h30. Wir rufen die erste Kabine für das Material. Die Holzkiste kommt an. Eine junge Frau sitzt darin, sie raucht Marlboros. Wir laden das Material. Dann beginnt der erste Teil des Teams zu Fuss den Aufstieg. Reto Suhner, Musiker der Region, der den Ort ausgewählt hat, Christian Tarabini (Camera) und ich. Auf dem Gipfel angekommen, ganz verschwitzt, haben wir keine Sekunde zu verlieren. Suche nach dem idealen Spot: Lichtverhältnisse, kein Wind, weder Geranien noch Apfelsaft-Sonnenschirme. Der Rest des Teams trifft ein: Masaki Hatsui (Ton), Antoine Berthier (Fotos), Isabelle Klaus (Fotos, Blog, Plakate). Die Standortbestimmung ist fertig. Die Seitenterrasse wird gewählt. Die Installation der Instrumente und des mobilen Ton- / Bildstudios kann beginnen. Das dauert zweieinhalb Stunden. Wir haben Verspätung: kein Problem, hier nimmt man’s mit der Ruhe. Wir beeilen uns trotzdem, aus Rücksicht denen gegenüber, die rechtzeitig gekommen sind, uns zuzuhören. Wir essen schnell eine Wurst mit Kartoffelsalat und los geht’s mit dem Duo auf dem Gipfel. Ich traf den Saxophonisten Reto Suhner zum ersten Mal im Jahr 2002 im Tessin, in Balerna. Wir zwei spielten am gleichen Abend am Festival Altrisuoni. Ich lud ihn ein, ein Stück mit Four Roses zu spielen. Manchmal ist eine Begegnung so einfach. Seine erste Platte im Quartett heisst «Born in Herisau». Er ist da unten geboren, in dieser kleinen Stadt, die man vom Gipfel der Hundwiler Höhe aus sieht. Dank ihm habe ich diesen magischen Ort entdeckt, in Luftlinie nur einen Schritt von meinem Heimatkanton entfernt: Appenzell Innerrhoden. Hier auf dem Gipfel dieses Hügels kommen die Kühe näher, wenn die Musik anfängt. Hier kommt das Wasser vom Säntis, die Elektrizität von der Windenergieanlage oder aus den Sonnenzellen. Hier wäscht man sich mit dem Waschlappen, schade, wir haben ihn vergessen, macht nichts: Wir duschen uns morgen, Inschallah! Hier ist einfach das Paradies. Hierher kommen wir wieder als Verliebte und als Familie und nehmen uns Zeit um uns Zeit zu nehmen, versprochen.

Von weit her beobachten die Leute der Region die Hundwiler Höhe mit dem Feldstecher. Wenn die Schweizer Fahne auf halbmast steht, ist die Seele des Ortes Marlies Schoch in Locarno, am Filmfestival. Den Rest des Jahres ist sie da oben in ihrer Bergherberge.

Als wir ankamen, stand die Fahne auf halbmast: Ende Nachmittag, als unser Konzert zu Ende ging, wurde sie gehisst. Als wir unser Material fertig eingepackt hatten, sagte Reto: Ich werde dir die Dame vorstellen. Weder Frau Schoch, noch Marlies : DIE Dame. Im Esssaal des Restaurants nahm sich Marlies Schoch Zeit, uns näher kennen zu lernen. Warum dieses Projekt Transhumance. Ich erzählte ihr von mir, von meinem Appenzeller Bauernhintergrund. Auge in Auge. Dann kam ein Besucher nach dem anderen, der Heidelbeeren-Pflücker, 74 Jahre alt und in Topform, ein Freundespaar, zwei Bauern aus der Umgebung: Alle hatten auf ihre Rückkehr gewartet und allen bereitete sie einen königlichen Empfang. Auch ihrer Rottweilerin Alexia, obwohl diese eifersüchtig war, weil sie ihre Herrin nach einer so langen Abwesenheit mit so vielen Unbekannten teilen musste. Die offensichtliche Erkenntnis drängte sich auf: auf die Hundwiler Höhe wird gepilgert. Dabei ist nichts Mystisches oder Dogmatisches: Marlies Schoch ist einfach eine aussergewöhnliche Persönlichkeit.

Dort war gestern, und heute bin ich zurück bei mir in Genf. Es ist Sonntagabend, 20h45. Ich beschliesse, Zigaretten kaufen zu gehen: Ich werde sie brauchen, um diesen Text aufzusetzen. Um den richtigen Ton zu finden: um die Magie dieser Begegnung wiederzugeben. Vor meinem Haus schnappt mich einer: Hast du eine Zigi? In Gedanken und ein bisschen überrascht erkenne ich jemanden. Nein, ich wollte grade welche kaufen gehen. Ich bin beim Menhir, meint er. Der Menhir steht in der Schattenzone meines Quartiers, dem Ilôt 13. Am Kiosk am Bahnhof frage ich, ob noch offen sei. Der Angestellte, am Ende eines langen Arbeitstages, lächelt mir zu. Ich entschuldige mich für die blöde Frage. Und dann weiss ich nicht, was ich für Zigaretten will. Schliesslich sage ich zu ihm: Es gibt Sonntagsfahrer und Sonntagsraucher. Je mehr ich an diesen Text denke, desto klarer zeichnet sich das Offensichtliche ab: eine Stimme flüstert mir in meinem Kopf zu. Sie sagt mir, dass diese Dame eine grosse Dame ist, und dass diese Begegnung Spuren hinterlassen wird. Die Schule des Lebens. Wie Monsieur Jean. Ich gehe am Menhir vorbei, um die versprochene Zigarette abzuliefern. Ich höre eine Stimme. «Jaa, hier bin ich». Ich sehe niemanden. Wo bist du? Ich sehe immer noch niemanden. «Jaa, hier bin ich, hinter dem Menhir». Am Menhir lehnt eine Vogelscheuche aus zurechtgelegten Kleidern. Seltsam. Ich komme näher. Sein Kopf taucht aus dem Gebüsch dem Menhir gegenüber auf. Da liegt er am Boden, versteckt, fast nackt… Ich strecke ihm zwei Zigaretten hin. Er murmelt, mit ernstem Ausdruck: Ich versuch dir was zu erklären : Zombies kommen vorbei, es ist Krieg ! Nur leicht verunsichert gehe ich ruhig weiter und sage: ich schaue keine Horrorfilme, darum glaube ich nicht an Zombies.

Menschen wie er hat die grosse Dame gepflegt. Viele. Sie hat keine Kinder gehabt; sie hat den Richtigen nicht gefunden «denn in unserer Gesellschaft machen die Frauen alles selber». Sie hatte nicht das Bedürfnis danach: «Ich habe viele Freunde und fühle mich wohl dabei». Marlies Schoch ist die Mutter von allen. Nachdem sie unten Lehrerin war und jeden Tag zu Fuss ins Dorf ging, kümmert sie sich jetzt von ihrem Berggipfel aus weiter um die Enterbten, die Aussenseiter. Da arbeiten junge Erwachsene, die sich nicht in die Gesellschaft integrieren, oder solche mit schweren Drogenproblemen. Weniger Junge, deren Wunden nie verheilt sind, wie der Verlust eines Kindes… «Früher nahm die Natur ihren Lauf und wenn man eines von sechs Kindern verlor, war das normal, Schicksal. Heute verliert man eines und erholt sich nie mehr davon.»

Sie versichert sich, dass alles in Ordnung ist und uns nichts fehlt. Sie nimmt sich Zeit, Fragen zu stellen und zuzuhören. Sie fragt z.B. Masaki, ob er Koreaner oder Japaner ist: Eine gute Frage, antwortet er. Sogar für uns ist das schwierig zu wissen. Nur die Sprache erlaubt uns, das festzustellen. Sie hat zwei Jahre in Marokko gelebt und wäre fast geblieben: die Leute dort sind so liebenswürdig. Sie ist auch nach New York und Japan gegangen. Sie liebt Japan. Jetzt geht sie nach Locarno. Sie braucht es, eine Zeitlang von vielen Menschen umgeben zu sein, um nachher voll und ganz den Rest des Jahres auf ihrem Berg geniessen zu können. Sie wusste, dass Christans Kaffee Schnaps nach dem Wein, dem Beinschinken und den Heidelbeeren mit Schlagrahm zu viel sein und ihn am Schlafen hindern würde. Sie hatte nichts gesagt, meinte nur beim Frühstück mit einem amüsierten Blick: «Ich gehe davon aus, dass man ab 20 solche Sachen weiss».

Info: Man braucht zwei Stunden, um ein Kilo Heidelbeeren zu pflücken, das für CHF 13.- verkauft wird.